
Alles mit links
Wenn man Jessica Zwiest bei ihrer Arbeit als Pflegekraft im BG Klinikum Duisburg erlebt, glaubt man nicht, dass sie eine dramatische Krankengeschichte hinter sich hat. Ein heftiger Autounfall, schwerste Verletzungen, Diagnose Querschnittlähmung.
Von einer Sekunde auf die nächste war ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Doch mithilfe einer exzellenten medizinischen Behandlung und einer maßgeschneiderten Rehabilitation im BG Klinikum Duisburg hat Zwiest längst ein glanzvolles Comeback geschafft – im Alltag und im Job. Nur macht sie jetzt fast alles mit „links“, genauer gesagt mit dem linken Daumen.
20. Juli 2016: Gut gelaunt fährt Jessica Zwiest mit dem Auto von der Arbeit im Pflegeheim nach Hause. Plötzlich verliert sie das Bewusstsein und prallt mit hohem Tempo frontal gegen einen Baum. Als die Rettungskräfte am Unfallort eintreffen, stehen sie vor einer Herausforderung: Die damals 29-jährige ist so stark eingeklemmt in ihrem PKW, dass sie 1,5 Stunden lang aufwändig aus den Trümmern herausgeschnitten werden muss. Erst dann kann sie medizinisch notbetreut werden. Bestmöglich stabilisiert wird sie anschließend in den wartenden Rettungstransporthubschrauber Christoph 9 gebracht und ins BG Klinikum Duisburg geflogen – einer der Schockräume des Hauses ist bereits für Zwiest vorbereitet.
Erste Hoffnungsschimmer und viel Willen
Dort angekommen, wird schnell das ganze Ausmaß der Verletzungen sichtbar. Zwiest hat einen gefährlichen Genickbruch erlitten, aber auch andere Frakturen und schwere Prellungen. Ihr Glück im Unglück: „Das Rückenmark im Bereich der Halswirbelsäule ist beim Crash nicht vollständig durchtrennt worden“, erklärt Dr. med. Stefan Hobrecker, Leitender Arzt der Sektion für Rückenmarkverletzte der Unfallklinik. Die Ärztinnen und Ärzte sprechen von einer „inkompletten“ Querschnittverletzung. Trotzdem sind bei Zwiest zunächst die Arme und Beine gelähmt, die Blase funktioniert nicht und sie ist erblindet. „Als ich nach der Notoperation an der Halswirbelsäule auf der Intensivstation aufgewacht bin und die Diagnose erfahren habe, war ich erstmal schockiert“, meint Zwiest. Doch Hobrecker konnte sie beruhigen. Zwar musste die Patientin nach der Operation noch einige Zeit auf der Intensivstation bleiben, eine weitere operative Behandlung des Genickbruchs war aber nicht nötig.
„Es war bei Frau Zwiest zur Quetschung des Rückenmarks mit Schwellung und Einblutung im zentralen Teil des Rückenmarks gekommen. Dort laufen die Nervenbahnen entlang, die vor allem die oberen Extremitäten und insbesondere die Hände ansteuern“, berichtet Stefan Hobrecker. Weitere Folgen der Nervenschädigungen sind verminderte oder veränderte Empfindungen für Berührungen, Wärme oder Schmerzen in einigen Körperbereichen. Auch Funktionen wie das Wasserlassen oder der Stuhlgang können gestört sein. „Bei inkompletten Verletzungen des Rückenmarks im Bereich der Halswirbelsäule erholen sich die Beinfunktionen oft schneller und umfangreicher als die Arm- und Handfunktionen, wo häufig chronische Einschränkungen bleiben“, erklärt Hobrecker.
Schnell zeigten sich erste Hoffnungsschimmer bei der Patientin. Die Sehkraft und das Gefühl in den unteren Extremitäten kamen allmählich zurück. Sie musste „nur“ die Muskulatur neu aufbauen. Zwiests Mindestziel für die Rehabilitation war klar: „Einen Rollstuhl hätte ich noch akzeptiert. Aber ich wollte mich unbedingt wieder alleine versorgen können: essen, zur Toilette gehen, usw.“ Im BG Klinikum tat man alles dafür, dass dieser Wunsch Wirklichkeit wurde. Sie bekam nicht nur einen maßgeschneiderten Therapieplan, sondern auch eine optimale Hilfsmittelversorgung über die zuständige Berufsgenossenschaft. Zum Beispiel einen Besteckhalter, der an der Hand fixiert wird, oder einen Griffadapter für die Zahnbürste. Das Motto des BG Klinikums „Von der Rettung bis zur Reha – mit allen geeigneten Mitteln“ war für sie ein Segen.

„Niemals den Kopf in den Sand stecken, es muss vorwärts gehen.“
Pflegekraft im BG Klinikum Duisburg
Viele Hürden im Alltag
„Ich habe zudem über die regulären Therapieverordnungen hinaus viel selbst trainiert“, erklärt Zwiest. Irgendwann war sie soweit, dass sie wieder laufen lernen konnte. Zunächst mit viel Unterstützung durch die erfahrenen Therapiekräfte, dann selbstständig an einem Gehwagen. Ihr Motto dabei: Hartnäckigkeit und eiserner Wille. Nach fast einem halben Jahr im BG Klinikum Duisburg „kassierte“ das Therapieteam dann alle Gehhilfen ein und sagte: „Du kannst das!“ Und in der Tat: es ging. Direkt nach Weihnachten konnte sie auf eigenen Beinen die Klinik verlassen und zurück in ihre Wohnung in Geldern. Allerdings – wie von Hobrecker befürchtet – mit einigen Handicaps. Zum Beispiel war und ist die Funktion der rechten Hand dauerhaft stark eingeschränkt. Beispielsweise eine Milchpackung festhalten, kann sie damit nicht. Aus der Rechtshänderin wurde daher notgedrungen mit viel Übung eine Linkshänderin.
Kein Wunder, dass es in den eigenen vier Wänden zunächst Höhen und Tiefen gab. Im BG Klinikum hatte sie bei Problemen immer jemanden, den sie ansprechen konnte. Daheim musste sie selber zusehen, wie sie klarkommt. „Da hätte ich manchmal verzweifeln können“, so Zwiest. Stattdessen fing sie an, Strategien zu entwickeln. Wie kann ich ein Marmeladenglas öffnen? Welche Hilfsmittel benötige ich, um alleine Strümpfe anzuziehen? Zwiest fand für fast alles eine Lösung und kämpfte sich langsam zurück ins Leben. Im Februar 2018 stand der nächste Meilenstein an: Sie konnte wieder zurück in den Job. Für die Fahrt zum Pflegeheim stand ihr ein speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittener Automatikwagen zur Verfügung – eine Handgabel am Lenkrad, ein optimierter Blinkerhebel u.v.a.m. inklusive. „Das Steuern mache ich eigentlich nur mit dem linken Daumen, dem einzigen Finger an beiden Händen, der noch normal funktioniert“, so Zwiest. Das Gleiche gelte etwa für die Bedienung des Computers.
Trainingslager unter sachkundiger Aufsicht
Um das mühsam Gelernte zu festigen und weitere Fortschritte zu machen, kommt Zwiest jedes Jahr für vier Wochen ins BG Klinikum auf die Station 1b für Rückenmarkverletzte. Auf dem Programm des „Trainingslagers unter sachkundiger Aufsicht“ steht dann u.a. das Auftrainieren der Muskulatur und ein komplettes Durchchecken. Das bislang letzte Mal war dies im April 2024 der Fall – mit unerwarteten Folgen. „Ich war schon lange unzufrieden mit meiner alten Arbeit und habe einen Tapetenwechsel gebraucht. Das habe ich auch offen gesagt“, berichtet Zwiest. Sofort wurde Viktoria Radic, die Bereichsleitung Rückenmarkverletzte in der Pflege, hellhörig und fragte nach. Welche Aufgaben sie denn in ihrem Job hätte? Wie ihr Tagesablauf aussähe? Und vor allem: Ob sie sich vorstellen könne, all dies auch in der Unfallklinik zu tun? „Bei so einem Jobangebot musste ich nicht lange überlegen und habe einfach zugesagt“, meint Zwiest – trotz 80 Kilometer Fahrt täglich zur Arbeit und zurück.

„Ich wusste, hier nimmt man Rücksicht auf Menschen mit Handicap. Und ich darf tun, was ich gut kann.“
Vorbild für Querschnittverletzte
Pflegedirektor Oliver Crone und seine Stellvertreterin Claudia Kästner zeigen sich sehr zufrieden mit der neuen Pflegekraft. Jessica Zwiest fungiert als leuchtendes Vorbild auf der Station. Sie weiß genau, wie Rückenmarkverletzte „ticken“ und spricht mit ihnen über die Themen, die sie bewegen, zeigt viel Empathie und gibt Insider-Tipps. Das macht vielen dort Mut und Hoffnung. Ihre Botschaft: „Ich sage den Patientinnen und Patienten immer: Man darf traurig oder wütend sein. Man darf auch einen Durchhänger haben. Aber dann muss man sich selber sagen: Niemals den Kopf in den Sand stecken, es muss vorwärts gehen“, so die Pflegekraft. Dass das tatsächlich funktioniert, dafür hat Jessica Zwiest mit ihrer Erfolgsgeschichte ein Zeichen gesetzt.