Die Wirbelsäulenerkrankung ist die häufigste Ursache für einen Verlust an Lebensqualität weltweit
Prof. Dr. med. Frank Kandziora, Chefarzt des Zentrums für Wirbelsäulenchirurgie und
Neurotraumatologie an der BG Unfallklinik, ist Präsident
der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft (DWG). In diesem Jahr findet der Deutsche Wirbelsäulenkongress – 15. Jahrestagung der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft (DWG) vom 9. bis zum 11. Dezember digital statt. Fünf Fragen an den DWG-Präsidenten Prof. Dr. med. Frank Kandziora.
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22.11.2020Professor Kandziora, Ihre DWG-Präsidentschaft steht im Schatten der Pandemie, wenn man so sagen darf. Sind Sie enttäuscht ein solches Jahr „erwischt“ zu haben? Was waren die besonderen Herausforderungen im Zusammenhang mit Corona, was sehen Sie vielleicht sogar ganz positiv?
Mal abgesehen von einem Digitalisierungsschub kann ich dieser Pandemie nichts „Positives“ abgewinnen. Für die DWG war es eine strukturelle, organisatorische und finanzielle Herausforderung. Fehlende Einnahmen, besonders im Rahmen von Veranstaltungen, die abgesagt werden mussten, standen unseren Verpflichtungen gegenüber. Doch ich bin ganz besonders froh darüber sagen zu können, dass wir es gemeinsam mit dem Vorstand und der Akademie der DWG geschafft haben, die finanziellen Herausforderungen zu meistern, sodass auch in Zukunft die DWG auf einer finanziell gesunden Basis stehen kann. Als Fachgesellschaft hatten wir uns drei große Projekte für dieses Jahr vorgenommen. Zum einen die Digitalisierung unser Weiterbildungskurse hin zu einem E-Learning-Modul. Zum zweiten unser Engagement bei Spine20 und zum dritten unsere Bestrebungen zur Einführung einer Zusatzweiterbildung „Spezielle Wirbelsäulenchirurgie“. All diese Projekte haben wir umgesetzt bzw. exzellente Fortschritte gemacht. Dennoch gebe ich zu, dass ich natürlich etwas traurig bin, weil das Jahr im Wesentlichen durch die Corona-Pandemie bestimmt wurde.
Gab es ein Highlight Ihrer Präsidentschaft? Konnten Sie ein „Herzensprojekt“ umsetzen?
Unser virtueller Jahreskongress steht ja noch aus und ich hoffe natürlich, dass das DAS Highlight wird. Das bisherige Highlight meiner Präsidentschaft war aber die Gründung von „Spine20“. Spine20 ist ein Gemeinschaftsprojekt mit der Nordamerikanischen Wirbelsäulengesellschaft (NASS), der Europäischen Wirbelsäulengesellschaft (EUROSPINE) und der Saudi Spine Society (SSS). Die DWG hat gemeinsam mit diesen drei Fachgesellschaften die Patenschaft für die Gründung einer neuen Wirbelsäulengesellschaft mit dem Namen „Spine20“ übernommen. Spine20 ist eine im Wesentlichen politische Wirbelsäulengesellschaft, deren Ziel es ist, Aufmerksamkeit für die Tatsache zu schaffen, dass die Wirbelsäulenerkrankung die häufigste Ursache für einen Verlust an Lebensqualität weltweit darstellt. Um diese Tatsache auf die große politische Bühne zu heben, werden die Spine20-Meetings parallel zu bzw. gemeinsam mit den G20-Treffen stattfinden. Dieses Jahr haben wir das erste Spine20-Meeting anlässlich des G20-Treffens der 20 führenden Industrienationen in Riyadh durchgeführt. Dieses Treffen war ein sehr großer Erfolg, sodass wir damit die Hoffnung verbinden, in den nächsten Jahren mehr politische Aufmerksamkeit für die Relevanz von Rückenerkrankungen zu erhalten.
Die DWG-Jahrestagung 2020 findet statt. Das ist zweifelsohne keine leichte Entscheidung gewesen. Was spielte eine Rolle und welche Inhalte mussten „Corona-konform“ angepasst werden?
Die DWG-Jahrestagung 2020 findet ausschließlich virtuell statt. In der aktuellen Pandemiesituation sieht die DWG sich in der Verantwortung, sowohl für die Gesundheit ihrer Mitglieder, als auch unserer Partner zu sorgen. Demzufolge haben wir uns für ein rein virtuelles Wirbelsäulenmeeting entschieden, das demzufolge auch komplett „Corona-konform“ ist. Im Rahmen dieses virtuellen Kongresses können eine Vielzahl klassischer Inhalte beibehalten werden z.B. unsere wissenschaftlichen Vorträge, Best-off- oder Pro- und Contra Sitzungen und natürlich unsere Plenarsitzungen mit renommierten Gastredner. Darüber hinaus haben wir auch einige Dinge verändert. Wir werden erstmalig parallele Sitzungen in unterschiedlichen Livestreams anbieten, sodass die Teilnehmer sich ihr Programm aus mehreren Angeboten zusammenstellen können. Dennoch muss kein Teilnehmer auf Vorträge verzichten, weil alle Vorträge auch nach der Live-Uraufführung digital noch für Monate zur Verfügung stehen werden. Darüber hinaus haben wir unsere Anfangszeiten verändert, um der Arbeitsrealität unserer Teilnehmer zu entsprechen. Damit hoffen wir ein gemeinsames Erlebnis für unsere Mitglieder zu schaffen, das bestmöglich unseren traditionellen Kongress ersetzt.
Einen Gastvortrag der Jahrestagung hält in diesem Jahr Ulf Merbold. Wie kam es dazu und worüber wird er sprechen?
Dr. Ulf Merbold gehört zu den Idolen meiner Jugend und ist nach wie vor der einzige Deutsche, der bisher dreimal ins Weltall geflogen ist. Ich erinnere mich noch sehr gut an seinen Jungfernflug 1983 als erster europäischer Astronaut mit der US-Raumfähre Columbia, der gleichzeitig auch der Jungfernflug des europäischen SpaceLabs war. Damals verfolgte ich als Gymnasiast, heute würde man sagen als Mathe- und Physiknerd, diesen Raumflug sehr aufmerksam und war davon vollauf begeistert, wobei speziell das Schweben im Raumschiff für mich faszinierend war. In den folgenden Jahren hatte ich mehrfach die Möglichkeit Ulf Merbold bei Vorträgen zu hören, speziell in seiner Zeit als Leiter der Astronautenabteilung des Europäischen Astronautenzentrums in Köln, wobei er es jedes Mal wieder geschafft hat, mich mit seinen hervorragenden Vorträgen zu begeistern. Demzufolge wollte ich mir und auch unserer Fachgesellschaft einen seiner Vorträge zum Thema „Schwerelosigkeit im All“ im Rahmen unserer Jahrestagung gönnen.
Haben Sie ganz persönlich Lehren aus der Pandemiekrise gezogen?
Meine persönliche Lehre aus der Pandemie ist, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die Pandemie hat ganz klar gezeigt, dass die sozialen Berufe wie Krankenschwester, Lehrer, Kindergärtnerin, aber auch Berufe wie Kassiererin, Friseurin, LKW-Fahrer etc. für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt eine herausragende Bedeutung haben. Das diese Berufe auch eine entsprechende Würdigung – auch über die akute Pandemie hinaus - erfahren sollten, halte ich für zwingend erforderlich. Und ganz persönlich hat mir die Fokussierung und der teilweise Rückzug auf mein familiäres Umfeld große Freude bereitet.